Knapp acht Minuten dauerte es, da lag Nepal buchstäblich am Boden. Die verheerenden Erdbeben im April und Mai 2015 richteten schwere Zerstörungen an, auch an vielen Schulen. Die Shree Muchchoktar Lower Secondary School in Muchchok im entlegenen Gorkha-Distrikt lag im Epizentrum des Bebens und wurde komplett zerstört, der damalige Schuldirektor kam ums Leben. Gemeinsam mit dem Hans-Erlwein-Gymnasium in Dresden und vielen guten Freunden engagieren wir uns für den Wiederaufbau und die Ausstattung dieser Schule.
Von Andreas Otto
Heiß brennt die Nachmittagssonne, als wir aus dem hübschen Flusstal des Daraudi Khola durch den tropisch-feuchten Wald in das auf einer Hochebene gelegene Dorf Muchchoktar aufsteigen. Mein nepalesischer Freund Dambar Rai, der mich begleitet und die Hitze eigentlich gewöhnt sein sollte, schwitzt und keucht genauso sehr wie ich. Zeit für eine kurze Pause.
Seit fünf Uhr morgens sind wir unterwegs, von Nepals quirliger Hauptstadt Kathmandu bis in dieses abgelegene Dorf im Gorkha-Distrikt am Fuße des Himalaya. Dabei sind wir gerade einmal 170 km weit gefahren, aber die hatten es in sich. Nepals Straßen sind teilweise extrem schlecht, viel zu viele Autos unterwegs, Staus also vorprogrammiert. Seit drei Stunden, die letzten 30 km, geht es nur noch im Schrittempo vorwärts. Kaum ein Mitteleuropäer würde hier freiwillig mit seinem 4x4 Allradjeep entlang fahren. Die sogenannte "Straße" ist nur noch eine buckelige Piste, zerfurcht von Baumaschinen und Traktorreifen, die sich an vielen Stellen einen halben Meter tief in die Straße gegraben haben. Eingeklemmt zwischen anderen Fahrgästen, ein jeder mit unheimlich viel Gepäck, und neben etlichen Hühnern, Ziegen und Schafen sitzen wir in einem ganz normalen Public Bus - von wegen Allrad! Ich empfinde Respekt für den jungen Fahrer, der den einst für die gepflegte Landstraße gebauten Bus gekonnt an sein Ziel steuert. Trotzdem ersehne ich schon lange den Moment, endlich aussteigen und zu Fuß weiterlaufen zu können.
Wir wandern weiter und der subtropische Regenwald ist indes üppigen Reisfeldern gewichen, die uns bis ins Dorf begleiten. Weit kann es nicht mehr sein. Kinder kommen uns fröhlich lachend entgegen gelaufen, wir werden herzlich und neugierig von der Dorfgemeinschaft empfangen. Es ist Erntezeit, Hochbetrieb auf den Feldern, doch jetzt lässt jeder seine Arbeit erst einmal liegen. Der Reis muss warten, denn schließlich kommen hier nicht allzu oft ausländische Gäste vorbei. Ob es sich schon herumgesprochen hat, weshalb wir hier sind?
Wir quartieren uns im Haus des Bürgermeisters ein, dem einzigen aus Stein gemauerten. Aus der Küche, die sich unter einem Bretterverschlag im Freien befindet, dringt ein verführerischer Duft. Wir müssen doch hungrig sein, ahnt die Frau unseres Gastgebers und lädt uns zu Dal Bhat ein, dem nepalesischen Nationalgericht. Dal ist eine würzige Linsensuppe, Bhat ist gekochter Reis. Dazu gibt es Gemüsecurry, angebratenen Spinat und scharfe, saure Pickles. Alles ist unglaublich lecker, doch das beste an diesem Gericht ist, dass es immer wieder Nachschlag gibt. So lange, bis wirklich jeder satt ist - gerade richtig für uns nach der langen Reise. Schon bald nach dem Essen sinken wir müde ins Bett.
Die Morgensonne kitzelt uns wach - trotz des nächtlichen Gewitters haben wir geschlafen wie die Murmeltiere. Unsere Gastgeber sind längst schon auf den Beinen, sie haben ihre Ziegen und Büffel bereits gemolken und mit frischem Futter versorgt. Genüsslich kauen die Tiere vor sich hin und beobachten uns Fremde argwöhnisch.
Kurz vor zehn Uhr sind wir mit Daya Laxmi Lamichane vor der Schule verabredet. Seit 2015 ist sie die Schulleiterin der Shree Muchchoktar Lower Secondary School. Ob ich am Unterricht teilnehmen dürfe, frage ich sie. Gerne doch, das sei sogar erwünscht. Vorher finde aber noch die "Assembly" statt: Morgenappell im Schulhof, eine wehende Fahne vorm Schulhaus. Ich fühle mich an meine eigene, längst vergangene Schulzeit erinnert und muss schmunzeln. Nur, dass wir damals keine Nationalhymne gesungen haben.
Für die Schüler in Nepal gehört die morgendliche Assembly ebenso dazu, wie die einheitliche Schulkleidung. Ich nutze die Gelegenheit und übergebe feierlich die großzügige Spende der Schüler, Eltern und Lehrer des Dresdner Hans-Erlwein-Gymnasiums. Dambar und ich werden nach der nepalesischen Tradition gesegnet, wir bekommen eine große rote Tika auf unsere Stirn gemalt und viele bunte Blumenketten umgehangen - Zeichen des Glücks, der guten Wünsche und der Dankbarkeit. Für mich ist das immer wieder ein bewegendes Ereignis. Nach der Assembly beginnt der Unterricht.
Ka-pu-re ... Da-hi-le ... Bha-ka-re - schallt es aus einem der hastig zusammengezimmerten, offenen Räume, die seit dem Erdbeben als Unterrichtszimmer dienen. Die Erstklässler lernen fleißig das nepalesische Alphabet. Gleich nebenan, nur durch eine dünne Bretterwand getrennt, lauschen die Schüler der 7. Klasse Santosh Dawadi, ihrem jungen Mathelehrer. Santosh erklärt ihnen gerade, wie geometrische Körper berechnet werden und man spürt, dass er sein Fach liebt. In anderen Klassen wird Englisch unterrichtet oder Nepali. Daya erzählt mir von weiteren Fächern, die gelehrt werden: Ethik, Gesundheitsvorsorge, Sport, Sozial- und Umweltkunde, Informatik. Bei dieser Vielfalt wundere ich mich, wie die Lehrerinnen und Lehrer mit den wenigen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, einen hochwertigen Unterricht gestalten können. Es gehe schon irgendwie, meint Daya, aber so richtig zufrieden klingt es nicht aus ihrem Mund. Es fehlt an fast allem: die Lehrbücher sind alt und verschlissen, der einzige Kopierer weit und breit seit dem Erdbeben zerstört. Die weißen Schultafeln sind verbogen und zerkratzt, sie wurden unter den Trümmern hervorgezerrt. Es bedarf viel täglicher Improvisation, um einen halbwegs ordentlichen Schulbetrieb zu realisieren - und überdurchschnittliches Engagement, sowohl bei den Lehrern als auch bei den Schülern.
Rund hundert Meter neben der Schule, eine ehemalige Reisterasse tiefer gelegen, entsteht noch recht zaghaft die neue, erdbebensichere Schule. Sie wird durch ein japanisches Konsortium finanziert, aber der Bau zieht sich in die Länge. Behördliche Zwänge, fehlendes Baumaterial, der felsige Untergrund, die schwierigen Zufahrtswege - alles stellt irgendwie ein Problem dar. Hinzu kommen die zahlreichen traditionellen Feste der Nepali, von denen viele im Herbst und im Frühjahr stattfinden. Der regen- und schneearmen Zeit also, wo man gut bauen könnte. Bis jetzt wurden die Fundamente, die Bodenplatten und eine Treppe des später dreistöckigen Schulgebäudes im Rohbau fertiggestellt. Doch immerhin arbeiten fast ausschließlich Einheimische auf der Baustelle.
Als Dambar und ich uns verabschieden, merkt Daya seufzend an, dass die Schüler nun schon seit mehr als zwei Jahren in diesem Provisorium mit den löchrigen Bretterwänden lernen. Und im nächsten Moment verrät sie uns mit strahlenden Augen ihre Vision: eine kleine Bibliothek an der Stelle der jetzigen, provisorischen Schule zu errichten. Doch bis es soweit ist, wird Daya wohl noch einige Reisernten auf den Feldern um Muchchoktar erleben.